9. September 2012

dOCUMENTA (13) Teil 2/3

Frühstücks-Platz

Der Zweite Tag:
Habe meine erste Nacht in einem Knast gut überstanden. Das Bett war in Ordnung und mal wieder kalt waschen ist auch eine lang vergessene Erfahrung. Etwas gewöhnungsbedürftig ist die Toilette direkt neben dem Bett. Geträumt habe ich auch eine ganze Menge Blödsinn. Scheinbar nimmt mein Unterbewusstsein die Erfahrung doch nicht so leicht wie ich es mir selber einrede will. Frühstück gibt es dann im Innenhof bei wieder schönstem Wetter. 

Orangerie mit "Möhren"

Wir machen uns auf den Weg Richtung Orangerie und Karlsaue. Die Karlsaue ist die Innerstädtische Parkanlage und von der Fläche etwa so groß wie der Hamburger Stadtpark. Im Westpavillion der Orangerie fangen wir mit dem Film bzw. den drei parallel und nebeneinander laufenden Filmen des finnischen Künstlers Mika Taanila an. Beeindruckend - mit ungewöhnlichen Einstellungen zeigen die Filme mit dem Titel „The Most Electrified Town in Finland“ (2004 bis 2012) den Bau eines Atomkraftwerkes. Im Weiteren sehen wir Werke von David Link und Jeronimo Voss. Bei beiden Künstler basiert das Werk auf technischer (Link) bzw. astronomischer (Voss) Grundlage. Damit verschließt sich mir bei beiden Künstlern der tiefere Zugang. Es wäre sicherlich interessant gewesen, sich mit einem „Sachverständigen“ über die Werke auszutauschen. 


Aus der  heraus getreten befinden wir uns direkt in der Karlsaue. Wir verständigen uns aber darauf, erst am nächsten Tag den Park in Angriff zu nehmen. Einen Moment wollen wir dann doch noch bleiben. Drei Werke sind in direkter Sichtweite und wir bringen es nicht über das Herz, sie einfach links liegen zu lassen. Zuerst begeben wir uns zu dem Bassin auf der Wiese vor der Orangerie. Der mit Wasser gefüllte und etwa 4qm große „Teich“ beherbergt eine sich in gleichmäßigen Rhythmus bewegende Welle. Im Begleitbuch wird auf Seite 240 das Werk von Massimo Bartolini folgend beschrieben: „ Ihre endlose Wanderung, ein in sich bewegte Form symbolisiert ewige Verwandlung und lässt uns zugleich innehalten – die Welle wandert nirgendwohin, läuft niemals aus. […] Die innere in sich geschlossene Bewegung des Wassers, fließend und doch in sich zurück gewendet, steht für den endlosen Kreislauf des Lebens.“ Ein großartiges Schauspiel auf kleinstem Raum (Ein Video gibt es hier: Wave). Es ist eines meiner Highlights des Tages.
Der „Doing Nothing Garden“ von Song Dong wirkt dagegen schon durch seine Größe. Ein Berg mitten auf der Wiese der Karlsaue, aufgetürmt aus Schutt und organischen Abfällen. Mittlerweile aber als ein Hügel mit wilder Wiese zu erkennen und mit Schriftzügen aus Leuchtröhren bestückt. Zum Schluss schauen wir uns noch den „Wald in Bewegung“ von Maria Loboda an. Eine Baumreihe (bestehend aus etwa 20 Zypressen in orangefarbenen Töpfen), die sich in militärischer Formation jede Nacht etwas weiter der Orangerie nähert. Höchst unterhaltsam war in dem Zusammenhang der Besuch einer Grundschulklasse. Die Lehrerin erklärte den Kindern die mobile Installation erst mit ihrer eigenen Geschichte. Unter dem Hügel (dem von Song Dong) würde ein großes weißen Kaninchen wohnen und dieses verstecke jede Nacht seine Möhren woanders im Park (die Zypressen mit ihren Töpfen sehen von weiten wirklich aus wie im Boden steckende Möhren). Danach erklärt sie dann die „wahre“ Geschichte der Installation und schließt mit den Worten „aber ich finde meine Geschichte besser!“


Deutsches Kulturgut?

Die Karlsaue und in der Mitte "Der Baum"

dTOUR - angelehnt an den Begriff Detour (Umleitung)

Für um 12 Uhr haben wir uns für die dTour (Führung durch die Documenta Halle und die Neue Galerie) angemeldet. Bis dahin ist noch etwas Zeit und ich schaue mir noch das vom Umfang übersichtliche Ottoneum an. Hier hat mich die Arbeit von Amar Kanwar bewegt, ein Zusammenspiel von Buch und Film. Auf Bücher, die mit wenigen Zeichnungen auf einem Sockel liegen, wird von oben mit einem Beamer ein Film projiziert. Der Film ist fortlaufend und verändert sich, aber auch ich greife ein, indem ich die Blätter des Buches weiter blättere. Die zweite Arbeit die ich hier erwähnen möchte sind die Skulpturen der Bildhauerin Aase Texmon Rygh aus Norwegen. Sie beschäftigt sich mit verschiedensten Materialien immer wieder mit der Unendlichkeit und eben mit dem Zeichen (www.rygh.org)

 
Guerilla Knitting auch in Kassel

Wir treffen uns mit unserer dTour Gruppe in der Nähe der Documenta-Halle. Etwa 15 Leute und eine Begleiterin, die gleich am Anfang mitteilt, dass es sich hierbei nicht um eine klassische Führung sondern um ein Begleitung durch die Ausstellung handeln würde. Das bringt gleich eine der dTour-Mitläufer auf den Plan: "Wenn ich hier nichts von den Konzepten der Künstler höre, dann kann ich auch alleine gehen" (sie ist dann doch bis zum Ende der Tour geblieben). Das Thema dieser zweistündigen dTour ist „Unterbrochene Objekte: Was bleibt von den Dingen“.
In der Documenta Halle sehen wir zuerst die abgedeckten Zeichnungen von Gustav Metzger und dann den Raum mit dem bildnerischen Werk der Schriftstellerin Etel Adnan. Ihr Bildmotiv ist meist ein Berg, den sie direkt aus ihrem Fenster sehen kann. Und wenn sie diesem Berg eben so lieben würde, warum sollte sie ihn nicht auch immer und immer wieder malen - so die Künstlerin selber. Guter Ansatz!
Das Erste was mich in den Räumen der Documenta-Halle wirklich bewegt, ist das aus vier überdimensionalen Bildern bestehende Werk von Julie Merethu. Zeichnungen bzw. Bilder mit dem Motiv von Fassaden (wie Architekturzeichnungen) und als Kontrast darüber abstrakte Zeichnungen. 
Ein sehr beliebter Ort bei den Besuchern ist der Raum von Yan Lei. Er hat 360 Bilder in ebenso vielen Tagen mit unterschiedlichsten Motiven bemalt. Diese hat er angeblich wahllos aus dem Internet gezogen. Ein bis drei „fertige“ Bilder werden pro Nacht abgeholt und in einem in der Nähe liegenden Autowerk mit Autolack behandelt und wieder in den Raum gehängt. So sind in dem Raum jetzt am Ende der dOCUMENTA (13) nur noch wenige Bilder mit gegenständlichen Motiven zu sehen. Die Mehrzahl der Bilder sind nun übermalte Lackbilder. Mehrere Dinge in diesem Werk sprechen mich sehr an. Das Übermalen als Prozess (es tut mir zum Teil in der Seele weh), das aus einem Zustand ein anderer wird (ich liebe lackierte Flächen) und die Frage, ob das Bild denn nicht mehr da ist? Es ist da, aber eben nicht mehr sichtbar, aber ist es dann wirklich noch da? Spannende Fragen, wunderbares Konzept – und hier passt die Fragestellung der dTour wie die Faust aufs Auge! 
Das letzte was ich noch aus der Documenta Halle mitnehme sind die betenden Motoren von Thomas Bayrle. Maschinen die beten! Mehr muss ich nicht sagen!

Zeitstrahl von Geoffrey Farmer in der Neuen Galerie

Auf dem Weg zur Neuen Galerie wird schnell klar, es kann nur noch eine kurze Einführung geben, denn die Zeit ist schon recht fortgeschritten. Wir fangen im Untergeschoss an, welchen ich hier nicht weiter kommentieren muss, denn die Kunst dort spricht mich nicht wirklich an. Ob es nun an den Werken, den Themen oder meinem langsam mit Eindrücken voll gestopften Kopf liegt, ist nur schwer zu sagen. Im Obergeschoss (Im Erdgeschoss ist die feste Sammlung zu sehen - unter anderem mit mehren Objekten von Beuys) geht es weiter. Meine Höhepunkte in dieser sehr großen Ausstellungseinheit waren der Räume mit der Musikbox, den Betonklötzen und der Raum mit dem Zeitstrahl.
Im ersten Raum des Obergeschosses liegen Betonklötze. Diese Klötze sind Nachbildungen von Gegenständen, Raumecken, Fußbodenabschnitten aus dem Aula Bunker in Rom. An diesem Ort wurden die weltweit beachteten Gerichtsprozesse gegen die Rote Brigade in den 70er Jahren abgehalten. Nun wurde der Raum wegen Umbaumaßnahmen komplett entkernt. Vorher aber hat die Künstlerin Abdrücke von besagten Stellen abgenommen um so diese Betonklötze gießen zu können. Mit den Themen und Fragen „was bleibt“, wie wichtig sind Orte für die Geschichte?“ und „was hält unsere Erinnerung“ spielt dieses Werk hervorragend.
In der Rauminstallation „Die Gedanken sind Frei“ von Susan Hiller steht eine Musikbox als zentraler Punkt an der Seite des Raumes. Die Box spielt von Besuchern angewählte Lieder. Die Lieder in der Box aber beinhaltete nur Protestsongs – von Chanson bis hin zu Punk-Musik ist alles vertreten. Alle Texte die angespielt werden können zusätzlich im Raum an der Wand nachgelesen werden oder per Kopfhörer mitgehört werden.
Der begehrteste Raum in der Neuen Galerie - und vielleicht auch von der ganzen dOCUMENTA (13) – ist der Zeitstrahl von Geoffrey Farmer. Er hat aus unzähligen Life-Magazinen aus dem Jahren 1935 bis 1985 Bilder ausgeschnitten und diese wie Schattenspielfiguren an kleine Stöckern befestigt. Diese Unmengen an Figuren sind wie ein Zeitstrahl in einer länge von mehr als 40 Metern angebracht und von beiden Seiten begehbar. (Hier gibts weitere Infos zum Künstler und Bilder des Exponats: hr-online)
Fazit: Beeindruckend allemal! 


Herbfallendes Wasser

Erstmal Pause. Meiner Meinung war die Alsterwasser/Radler Grenze immer kurz hinter Göttingen. Aber auch hier in Kassel ist der norddeutsche Begriff für das erfrischende Getränk in Benutzung. Weil wir nur etwas lüttes Essen wollen gehen wir in Richtung Zentrum und holen uns beim Bäcker eine Kleinigkeit. Danach setzen wir uns mit Kaffee und Brötchen an einen Brunnen, der am Anfang etwas skurril anmutet. Wir werden durch ein Schild aufmerksam das er scheinbar etwas mit der dOCUMENTA (13) zu tun hat. Aber eigentlich ist der Brunnen zu alt, dass er zur aktuellen Ausstellung gehören könnte. Nach dem einholen der Infos aus "dem Buch" und durch eine Anwohnerin, die wohl die etwas planlosen Gesichter schon kennt, wissen wir auch mehr. Der Aschrott-Brunnen des jüdischen Unternehmers Sigmund Aschrott wurde von den Nazis zerstört. Der Künstler Horst Heisel baute 1987 ein Replik des original Obelisken aus Beton und rammte ihn Kopfüber in den Boden. Dieser Obelisk ist hohl und nun der Abgrund, in welches das Wasser fällt. Der Betrachter kann den Brunnen, der mit Gittern abgedeckt ist, betreten und in die Tiefe schauen, wie das Wasser tosend herab saust. Auch zur dUKUMENTA reinigt der in Kassel lebende Heisel in einer öffentlichen Zeremonie den Brunnen. (Mehr zum Brunnen gibt es hier auf Wikipedia.de)
Die weiteren „abgelegenen Orte“ suchen wir nun im Anschluss auf. Der aktuelle Superstar der Kunstszene Tino Sehgal überzeugt mit seinem musikalischen Werk im dunklen Raum. Die Besucher bewegen sich unsicher in den Raum, werden durch Musik umgarnt und zwischenzeitlich von den Sängern weiter in den Raum geführt. Erst nach etwa 10 Minuten tritt bei vielen der Gewöhnungseffekt ein und es können Umrisse der Menschen im Raum wahrgenommen werden. Schön ist auch, dass in dem Begleitbuch die Seite in der Tino Sygall beschrieben werden soll einfach fehlt. Dem Wunsch des Künstlers, der nichts fotografiert und keine schriftlichen Aufzeichnungen seines Werkes hinterlassen möchte, wird so Rechnung getragen 
Direkt daneben wird das aus den Anfängen des 19. Jahrhunderts stammende Hugenottenhaus renoviert. Gebaut wird mit Materialien von Abrisshäusern aus Kassel und Chicago, dem Heimatort des verantwortlichen Künstlers Theaster Gates. Die Handwerker sind Teilnehmer an Arbeitsförderungsprogrammen aus den beiden Orten. Sie arbeiten im Haus aber wohnen dort auch! Das Haus wird neben des Restaurierung auch für Diskussionsveranstaltungen und Musikabende verwendet.


Ich mache mich danach noch alleine auf den Weg zu den Weinbergterrassen und dem „Bunker im Weinberg“. Ein Bunker im allgemeinen schon ein faszinierender Ort, wird gerade durch die Video-Installation von Allora & Calzadilla noch spannender. In dem Film wird versucht auf einer prähistorischen Flöte zu spielen. Zuhörer ist ein Gänsegeier, ein Nachfahre eines der ältesten Geschöpfe dieser Welt. So abgedreht die Idee, so wirkungsvoller der Film in diesem Bunker!
Die Weinbergterassen werden alleine von Adrián Villar Rojas bespielt. Der Bildhauer arbeitet zwar an Skulpturen, diese sind aber anders als gewohnt nicht für die Ewigkeit gebaut. Sie werden aus Stahlträgern, Zement, Holz, Stein hergestellt und mit nicht gebrannten Ton überzogen. Die Skulpturen entstehen vor Ort und können nicht woanders hingebracht werden. Die einzelnen Werke wirken auf der einen Seite durch ihre teilweise zerbrochene Oberflächenstruktur extrem empfindlich. Auf der anderen Seite mit ihrer Masse und Größe, wie für die Ewigkeit gebaut. Die Objekte zeigen Abstraktes, aber auch sehr gegenständliches. Personen beim Kampf oder gemeinsam im Boot. Beeindruckende Skulpturen und meine absolute Entdeckung dieser dOCUMENTA (13).


Von wegen, die dOCUMENTA (13) wäre auf den Hund gekommen: Eine Katze umgarnt eine Skulptur von Adrián Villar Rojas!

Blick über Kassel

Wir treffen uns wieder am Baum von Guiseppe Penone (wird im dritten Teil noch ausführlicher behandelt) und gehen mit ein paar Bieren zur Wiese vor der Orangerie. Die Abenddämmerung kommt und wir lassen den Tag ausklingen. Wir überlegen wie wohl ein Film aussehen könnte. Thema wären die ganz „normalen“ Personen, die im Hintergrund dieser documenta stehen. In dem Film wären die Hauptpersonen zum Beispiel der Hausmeister (der jeden Tage Bilder von Yan Lei abnimmt und zum überlackieren fährt), die beiden Helfer die jeden Abend das Wasserbassin von Massimo Bartoli mit Bauzäunen sichern oder die Aufsichten, die aufpassen, dass die Schlange vor dem Raum von Geoffrey Farmer nicht zu lang wird.

Streetart

Die Orangerie und im Vordergrund der abgesicherte Wasserbassin von Massimo Bartoli

Zum Abschluss des Tages gibt es noch etwas Pasta bei „unserem Stammitaliener“ an der Karl-Branner-Brücke (bloß nicht noch mehr Neues!). Fertig! Ende! Alle! Was für ein schöner und spannender Tag!

Gute Nacht
dOCUMENTA (13) Teil 1 von 3
dOCUMENTA (13) Teil 3 von 3


Nochmal die gleich Anmerkung wie in Teil 1: Es ist natürlich nur ein bescheidener Versuch das zu beschreiben, was ich bei dieser großen Kunstausstellung gesehen, erlebt oder auch gefühlt habe. Zudem sind mir meine Rechtschreibfehler, grammatikalischen Ungenauigkeiten und Sprünge in den Zeiten mittlerweile liebgewonnene Begleiter geworden.

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